Qualitative Literatur- und Medien-Interaktionsforschung

deutsch

english

Interdisziplinäre Narratologie

Der Vorsatz, den disziplinären Habitus und das Verfahrensrepertoire der Literaturwissenschaften in einer Weise zu erweitern, die Interdisziplinarität nicht nur als binnen-philologische Kooperation von geisteswissenschaftlichen Fächern unter dem Dach hermeneutischer Auslegungstraditionen versteht, sondern darüber hinaus auch den intensiven theoretischen und methodologischen Austausch mit den sozialwissenschaftlichen, psychologischen Handlungswissenschaften und qualitativen Methoden sucht, findet seit kurzem besonders günstige Voraussetzungen vor.

Nicht mehr nämlich müssen sich heute, wie in den unversöhnlicheren Siebzigerjahren, die "hermeneutischen" Autoritäten und eine kleine, energisch aufbegehrende Fraktion der "empirischen" Literaturwissenschaft in großem Unverständnis gegenüber stehen. Denn die empirischen Handlungswissenschaften sind in jüngster Zeit zunehmend auch hermeneutisch geworden, so dass das Empirische und das Hermeneutische heute keine sich wechselseitig ausschließenden Kampfpositionen mehr sind. Beruht doch die Methodologie der qualitativ-empirischen Herangehensweisen wesentlich auf einem narrations-theoretisch und sequenzanalytisch fundierten Sinnverstehen der mündlichen Erzählaussagen von Proband/inn/en. Mithin sind die qualitativen Ansätze letztlich hermeneutisch-sinnverstehend – wenngleich in einer durchweg methodengesicherten Weise. Hierin zeichnen sich gangbare Brücken der fächerübergreifenden Zusammenarbeit zwischen den Geisteswissenschaften einerseits und den Interaktions-Wissenschaften der psycho- und soziologischen Bereiche andererseits ab, die es als gemeinsamen methodologischen Nenner der Kultur- und Gesellschaftswissenschaften zu beschreiten gilt.

Sich auf diesem Nenner einfindend, werden die Interessenten des interdisziplinären Arbeitens nicht mehr wie bis vor kurzem bei ersten komparativen Sondierungen von fächerübergreifenden Parallelen der Metatheorie oder bei versuchsweisen Begriffsimporten und -exporten verbleiben müssen (z.B. von übergreifenden Leitbegriffen wie 'Textualität' oder 'Narration'). Vielmehr wird man die Ebene der konkreten Operationalisierung von Forschungsvorhaben in Form von pluri-methodischen Settings der Literatur- und Didaktikforschung beschreiten können, mittels derer in intergrativ handlungstheoretischer Perspektive sowohl Textanalyse als auch Interaktionsforschung mit Leser/inne/n und Autor/inn/en betrieben wird.
[Psychotrauma, Narration in the Media, and the Literary Public (2005a), "Das Trauma muss dem Gedächtnis unverfügbar bleiben" (2007a)]

Zur weiteren Befestigung eines solchen gemeinsamen methodologischen Nenners der Gesellschafts- und Kulturwissenschaften mag auch der günstige Umstand beitragen, dass sich in Teilbreichen den Geisteswissenschaften derzeit ein narratologischer Ansatz neu zu formieren beginnt, der sich als fächerübergreifende Wissenschaft vom menschlichen Erzählen in einem weiten, alle Textsorten und Medien sowie mehrere, zum Teil auch nicht-philologische Disziplinen umfassenden Sinn begreift.

Dies stellt insofern eine hilfreiche theoretische Ausgangsbasis für kulturwissenschaftliche Interdisziplinarität dar, als auch in vielen anderen wissenschaftlichen Disziplinen jüngst erzähltheoretische Konzepte formuliert worden sind, z.B. in der qualitativen sozial- und medienwissenschaftlichen (Interaktions)-Forschung oder in der Historiografie und insbesondere in der klinischen Entwicklungspsychologie und Psychotherapieforschung. Inwieweit es der philologischen Narratologie gelingen wird, auch in die Richtung eines handlungstheoretischen und auch psychologisch versierten Narrations- und Literaturbegriffs zu gehen, wird die Zukunft weisen.
[Dissoziative (Medien-) Interaktion (2003e), Psychotrauma, Narration in the Media, and the Literary Public (2005a), Empirisch gestützte psychoanalytische Literaturforschung (2006c), Der Mensch – ein Homo Narrator (2006e), Kulturwissenschaftliche Traumanalysen (2006f), Geisteswissenschaften und Psychologie (2008l)]

 
c/o Cultures Interactive, Mainzer Str. 11, 12053 Berlin, e-mail: hweilnboeck@gmx.de©entredeux 2006